Wanderungen zwischen Leben und Tod – Teilnehmerbericht vom 5. Palliativfachtag 2016

[Der folgende Bericht vom 5. Palliativfachtag 2016 stammt von der Fachtagsteilnehmerin Kerstin de Schultz vom Hospizverein Leipzig e.V., in dessen Rundbrief (S. 14) er ebenfalls veröffentlicht wurde.]

Unter dieser Überschrift lud das Palliativnetzwerk für Leipzig und Umgebung zum 5. Palliativ­fachtag in die Kulturscheune des Klosters Nimbschen ein. Diesmal war dieser eingebettet in das Rah­men­pro­gramm zum 11. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, der vom 7.-10. Sep­tem­ber auf der Neuen Messe Leipzig stattfand. Trotz der kurzfristigen Absage von Professor Husebø, dessen angekündigter Vortrag sicher viele Zuhörer angelockt hatte, war es erneut eine absolut ge­lun­ge­ne, hoch informative und zum langfristigen Nach- und Umdenken anregende Fort­bil­dungs­ver­an­stal­tung. Die große Zahl der Teilnehmer aus unterschiedlichsten Arbeits­bereichen zeigt das steigende Interesse und die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit dieser Thematik.

Bereits am Vormittag fanden vier Workshops statt, die zu Beginn des Symposiums kurz zu­sam­men­ge­fasst wurden. Dabei hörten wir, wie die überlegt eingesetzte Aromapflege gerade am Lebensende eine sinnvolle Ergänzung zu notwendigen Maßnahmen der Symptom­kontrolle (z.B. Schmerztherapie oder Behandlung von Angst und Unruhe) darstellen kann. Herr Rechtsanwalt Hirschkorn informierte zu den wesentlichen Neuerungen des in Kürze in Kraft tretenden Pflege­stär­kungs­ge­set­zes. Mit ihm werden die bekannten Pflege­stufen durch 5 Pflegegrade ersetzt. Die bisher übliche Praxis der mi­nu­ten­ge­nau­en Einschätzung von Pflegemaßnahmen entfällt, stattdessen steht die individuelle Bedürftigkeit, bei­spiels­wei­se hinsichtlich psychischer Probleme, im Mittel­punkt. Eine wichtige Änderung besteht auch in der dann für alle Pflege­heim­bewohner gleichen Zuzahlung, unabhängig von Pflegestufe bzw. -grad. Die Teilnehmer des Workshops „Gelingende Kommunikation“ lernten, dass Verständigung möglich ist, Kommunikation aber auch Übung braucht. Es kommt darauf an, Meinungen und Perspektiven ne­ben­ein­an­der stellen zu können, miteinander zu kooperieren, seine eigenen Bedürfnisse und die seines Ge­gen­ü­bers wahrzunehmen und zu formulieren. Es gilt Verständnis füreinander zu entwickeln, tragbare Kom­pro­mis­se und Absprachen zu treffen und sich schließlich davon zu verabschieden, dass es stets nur die „eine Wahrheit“ geben muss.

Die würdezentrierte Therapie schließlich war Thema eines weiteren Workshops. In Deutschland etabliert seit 2014, wurde sie vom Kanadier Harvey M. Chochinov entwickelt. Sie basiert auf einer Grund­haltung des Behandlers, die seine Einstellung zum Patienten, sein Verhalten und Mitgefühl ihm ge­gen­ü­ber sowie die Anpassung der Gesprächs­führung an die Bedürfnisse und Vor­aus­set­zun­gen des Patienten betreffen. Ziel ist es, das ganz individuelle Würde­empfinden des Patienten zu stärken. Als Kurzformel zum Prinzip dieses Therapie­ansatzes kann der Satz dienen: „Was sollte ich über Sie wissen, um Ihnen die bestmögliche Pflege zukommen zu lassen?“

Den ersten Vortrag des Symposiums gestaltete Stephan Patke (Zentrum für Beatmung und In­ten­siv­pfle­ge GmbH Berlin) zum Thema „Endstation Beatmungspflege? Leben und Sterben mit 24h-In­ten­siv­be­treu­ung“. Er konfrontierte uns zunächst mit den nüchternen Fakten: immer mehr Menschen sind auf Pflege angewiesen, der Pflege­markt in Deutschland wächst jährlich um 8-10%. Etwa 2-3% – oder ca. 63 000 – der Pflege­bedürftigen befinden sich in häus­licher In­ten­siv­pfle­ge, die ca. 3 Milliarden Euro kostet. Es werden Patienten betreut, die bei­spiels­wei­se unter COPD (chronisch-obstruktive Lun­gen­er­kran­kung) oder neurogenerativen Erkrankungen leiden oder nach Hirn­blutungen bzw. anderen Hirnschäden be­ein­träch­tigt sind, viele von ihnen sind multimorbid. Sie leben zu Hause, zum Teil in 1:1- Versorgung, oder in verschiedenen stationären Einrichtungen. Es gibt ein sehr breites Anbieter­spektrum mit großen Struktur- und leider auch Qualitäts­unterschieden. Besonders in ländlichen Gebieten ist die Versorgung pro­ble­ma­tisch. Die außer­klinische In­ten­siv­pfle­ge erzielt sehr hohe Vergütungen, im ambulanten Sektor gibt es kaum Regulierung und offenbar nur unzureichende Qualitäts­kontrollen. Der Föderalismus verhindert auch hier ein einheitliches System in den Ländern, häufig kommt es zu Versorgungs­brüchen durch fehlendes Case Management. Der Patient und seine Familie wünschen sich jedoch zumeist die häus­liche, individuelle Versorgung und nehmen hierfür Abstriche in der Qualität in Kauf.

Herr Patke führte auch aus, dass die im Pfle­ge­stär­kungs­ge­setz vorgesehene Abschaffung der mi­nu­ten­ge­nau­en Abrechnung von Pflege­leistungen für In­ten­siv­pa­tien­ten pro­ble­ma­tisch werden kann. In seinen abschließenden Fallbeispielen zeigte er eindrucksvoll auf, dass Selbst­bestimmung unter Beatmung oft kein Thema ist, Leben und Sterben hier häufig fremdbestimmt sind. Besonders betonte er an dieser Stelle, wie wichtig Pa­tien­ten­ver­fü­gung und Vor­sor­ge­voll­macht in solchen Situationen sein können. Als Konsequenz aus der momentan recht unübersichtlichen Lage im Bereich der außerklinischen Beatmung und In­ten­siv­pfle­ge forderte Herr Patke, dass Palliative Care als fester Bestandteil der Versorgung etabliert und durch regelmäßige Kontrollen seitens des medizinischen Dienstes der Krankenkassen eine gleichmäßig hohe Qualität erreicht werden muss. Außerdem regt er eine Neugestaltung der Fi­nan­zie­rung an, in der auch die weitere Betreuung der Angehörigen nach dem Tod des Patienten verankert werden sollte. Sie haben oft über einen sehr langen Zeitraum die in­ten­si­ve, körperlich und psychisch anstrengende Pflege mitgetragen und empfinden nun nicht selten eine absolute Leere, müssen ihr eigenes Leben vollkommen neu strukturieren und haben keinen Ansprechpartner für ihre Nöte.

Unter der Frage „Herz­un­ter­stüt­zungs­sys­te­me – Fluch oder Segen aus Sicht der Palliati­vmedizin?“ stellte Frau Dr. Julia Fischer, Oberärztin der Klinik für Herzchirurgie am Herzzentrum Leipzig, die große Gruppe der Menschen mit Herz­in­suf­fizienz in den Blickpunkt. Diese Erkrankung betrifft 1-2% aller Erwachsenen, bei den über 70-Jährigen liegt die Erkrankungsrate bei etwa 10%. Zusätzlich zur me­di­ka­men­tö­sen Behandlung benötigen einige Patienten im Verlauf ihrer fort­schrei­ten­den Erkrankung so­ge­nann­te Herz­unter­stützungs­systeme. Neben Schrittmacher oder Defibrillator ist hier vor allem das Kunst­herz zu nennen. Das erste Kunst­herz wurde 1969 in Texas implantiert, seitdem wurden die technischen Möglichkeiten natürlich stetig verbessert. Derzeit werden am Herz­zen­trum Leipzig ca. 180 Patienten mit einem Kunst­herz betreut. Die Implantation bringt leider einige Nachteile bzw. Risiken mit sich: Es kann bei­spiels­wei­se zu Infektionen oder Thrombosen kommen, die wiederum zu Schlaganfällen oder Embolien führen können. Deshalb muss eine stetige Anti­ko­a­gu­la­tions­the­ra­pie erfolgen, welche das allgemeine Blutungsrisiko erhöht. Auch technische Probleme durch „Heißlaufen“ der Pumpe sind möglich, an regelmäßiges Wechseln der Batterien muss ebenfalls gedacht werden.

Mitunter dient das Kunstherz zur Überbrückung, bis ein Spenderherz zur Transplantation zur Verfügung steht oder auch zur Unterstützung der Heilung bei­spiels­wei­se einer Myokarditis. Für nicht wenige Menschen jedoch heißt es, dass aufgrund der weit fort­ge­schrit­tenen Herz­schä­di­gung oder auch zusätzlicher Be­gleit­er­kran­kun­gen das Kunst­herz als Teil einer nunmehr palliativen Therapie bis zum Ende ihres Lebens zum ständigen Begleiter wird. Dabei machte Frau Dr. Fischer deutlich, dass dabei in der Regel nur von einigen Monaten bis sehr wenigen Jahren verbleibender Lebenszeit auszugehen ist. Diese Patienten werden in einem späten Stadium ihrer Krankheit am Herzzentrum vorstellig, sind gezeichnet durch eine hohe Symptomlast mit starker Atemnot, Fatique (Müdigkeit, Erschöpfung, An­triebs­lo­sig­keit) bis hin zu Depressionen. Ein kurativer Ansatz ist zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr möglich. Frühzeitig muss mit diesen Patienten und den Angehörigen besprochen werden, dass eine palliative Therapie erforderlich ist, die sich allein an der Linderung der Symptomatik ausrichtet. Nach der Implantation des Kunstherzes können zusätzlich zu den oben benannten Risiken starke psychische Probleme auftreten. Besonders die Tatsache, dass der Herztod faktisch nur durch das Abschalten des Gerätes eintreten kann, stellt eine große Belastung und Herausforderung für Patient, Angehörige und Behandler dar. Besonders erschreckt hat mich schließlich die Information, dass sich in dieser Grenz­si­tu­a­tion immer wieder Patienten dazu entscheiden, die Verbindung zwischen Pumpe und Implantat zu trennen, also einen so­ge­nann­ten VAD-Suizid durchführen. Das zeigt einerseits, wie wichtig eine intensive psychologische Betreuung ist. Andererseits ist für diese Menschen auch die stets transparente, den Patientenwillen fördernde und anerkennende Kommunikation mit den behandelnden Ärzten unerlässlich.

Die Oberärztin stellte heraus, dass ein Sterben mit Kunstherz und anderen Herz­unter­stützungs­systemen prinzipiell überall möglich ist, diese Patienten also nicht zwingend ihr Leben in einer Spezialklinik be­en­den müssen. Dazu wünscht sie sich die professionelle Zusammen­arbeit von Kardiologen, Hausarzt und Intensiv­pflege- oder SAPV-Teams, die bereit sind, sich auf diese besondere Situation einzulassen und die Patienten und Angehörige mit Wissen und Erfahrung zu begleiten. Der sehr fundierte und engagierte Vortrag dieser jungen Ärztin hat wohl bei allen Zuhörern einen nachdenklichen Eindruck hinterlassen. Für uns ist er Anlass, künftig einmal mehr unser Augenmerk auf die große Gruppe der Patienten mit chronischen, nicht heilbaren Erkrankungen (wie beispielsweise auch die häufige Lun­gen­krank­heit COPD oder neurologische Erkrankungen wie Parkinson) zu richten. Sie haben im Endstadium ihrer Krankheit häufig unter sehr belastenden Symptomen zu leiden, werden aber vergleichsweise selten ausreichend palliativmedizinisch und -pflegerisch versorgt.

Die anschließende Kaffeepause, die wir bei schönstem Spätsommerwetter im Klostergelände genießen konnten, bot auch Gelegenheit, sich mit anderen Teilnehmern über eben Gehörtes oder selbst Erlebtes auszutauschen. Anschließend vermittelte uns Sibylle Lück wertvolle Gedanken und Erfahrungen aus ihrer Tätigkeit als Palliative Care-Beauftragte im Evangelischen Altenzentrum Westerstede. Ihr Beitrag „Stabilisieren vor Mobilisieren- berührende Momente am Lebensende“ zeigte, wie wichtig ein Per­spek­tiv­wech­sel ist: von zunehmender Schnelligkeit in allen Lebensphasen hin zu einer oft notwendigen, wohltuenden Langsamkeit. Sie erläuterte an Patientenbeispielen eindrucksvoll, dass Stabilität nötig ist, um Mobilität überhaupt erst zu ermöglichen. Für die Beratung, Begleitung und Betreuung schwerst­er­krank­ter oder alter Menschen und deren Familien bedeutet dies, dass durch vertrauensvolle Be­zugs­pfle­ge, einbeziehende Angehörigenarbeit, Entwicklung von Ritualen und einer vom Palliativ­ge­dan­ken geprägten Grundhaltung im Team dem Patienten oder Bewohner die noch größtmögliche Mobilität zuteil wird. Wenn wir ihn beispielsweise an die Bettkante setzen, er mit den Füßen den Boden spüren kann, wir ihm dabei Halt geben, erfährt er Stabilität. Wir sehen, dass er aufrechter in seiner Körperhaltung wird, durchatmen kann, vielleicht lächelt. Indem wir unsere Hand­lung­en an seinem Rhythmus und seinen Bedürfnissen ausrichten, ermöglichen wir dem Menschen am Lebensende weitgehende Au­to­no­mie. Frau Lück entließ uns mit der Frage: „Wieviel Mobilität verträgt unsere Gesellschaft?“ – ein Gedanke, dem wir sicher in allen Lebensphasen nachgehen und unsere ganz eigenen Antworten darauf finden sollten.

Den Leitfaden des Palliativtages „Wanderungen zwischen Leben und Tod“ griff am Ende Professor Dr. Leinung, Chefarzt der Chirurgie an den Mul­den­tal­kli­ni­ken Grimma, auf. Er stellte in seinem Beitrag an sehr persönlichen Erlebnissen dar, wie diese ihn geprägt und bei Entscheidungen in Grenz­si­tu­a­tio­nen be­ein­flusst haben. Als Arzt musste er lernen, aufrichtige Gespräche mit Patienten und Angehörigen zu führen und das Recht auf Selbstbestimmung zu akzeptieren. Mit vollem Körpereinsatz zeigte er uns mittels einer Yoga-Einlage, wie er in persönlich schwierigen Lebensphasen seine Mitte wiederfindet. Schließlich berichtete Professor Leinung uns noch von Elias, seinem Sohn, der tot geboren wurde. Er erzählte, wie er sich gemeinsam mit seiner Frau und den beiden Kindern ausreichend Zeit und Raum nahm, dieses unfassbare Ereignis begreifbar zu machen. Er schloss ab mit biblischen Worten, die aber sicher für jeden Menschen bedenkenswert sind – und denen am Ende der Veranstaltung auch nichts mehr hinzuzufügen war.

Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:
geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit;
pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit;
töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit;
abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;
weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit;
klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit;
Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit;
herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit;
suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit;
behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit;
zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit;
schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit;
lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit;
Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.
(Buch Kohelet; 1-8)

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